Liebe Oma,
es gibt Menschen, deren Leben so leise ist, dass man es fast überhören könnte und doch tragen sie eine Schönheit in sich, die lauter spricht als jede große Geste. Du warst einer dieser Menschen. Ruhig, zurückhaltend, fast unscheinbar im Lärm der Welt, und dennoch war in dir ein stilles Leuchten, das man nur sieht, wenn man selbst still genug wird, um zu verstehen, was diese Stille überhaupt bedeutet.Du hast nie viele Worte gebraucht. Vielleicht drei, vier Male hast du gesagt, dass du mich gern hast und doch war es so, als würdest du es jeden Tag auf deine Art flüstern. Nicht in Sätzen, sondern in kleinen Zeichen, in Blicken, in einer Freundlichkeit, die so zart war, dass sie fast unbemerkt blieb. Viele hätten darin Schwäche gesehen. Ich sehe heute darin Stärke. Die Art Stärke, die nicht kämpft, sondern aushält. Nicht schreit, sondern trägt.
Vielleicht hast du mehr Lasten getragen, als du je gezeigt hast. Vielleicht hast du Dinge in dir behalten, die andere sofort hinausgeschrien hätten. Aber ich glaube, gerade in diesem Schweigen lag eine Wahrheit: Du wolltest niemanden belasten. Du wolltest niemandem wehtun. Und so hast du dich still durch diese Welt bewegt, als wärst du ein Blatt im Wind leicht, aber trotzdem voller Geschichte. Heute verstehe ich dich besser als je zuvor. Weil ich selbst durch Stürme gegangen bin, durch Dunkelheit, durch Gedanken, die zu schwer waren. Ich weiß, wie es ist, wenn im Inneren ein Kampf tobt, den niemand sieht. Und genau dadurch erkenne ich, dass du vielleicht auch diesen inneren Kampf kanntest und dass du trotz allem freundlich geblieben bist. Das verdient mehr Respekt als jedes laute Heldentum. Oma, du bist einer dieser Menschen, die man nicht ersetzen kann. Nicht, weil du laut warst oder groß, sondern weil du echt warst. Und weil deine Stille mich gelehrt hat, hinzusehen hinter die Worte, hinter die Masken, hinter die Fassade der Welt. Du hast mich, ohne es zu wissen, zu dem gemacht, der ich bin. Und auf eine seltsame Weise folge ich heute ähnlichen Spuren wie du: der Spur der Stille, der Spur der inneren Einkehr, der Spur eines Herzens, das viel sieht, aber trotzdem stabil bleibt. Doch ich gehe sie bewusst weiter, mit Klarheit, mit Licht und mit der Erkenntnis, dass selbst die stillsten Menschen Spuren hinterlassen, die über Generationen hinweg leuchten. Dein Leben war vielleicht leise. Aber deine Wirkung war es nie.
Und wenn ich eines Tages meinen eigenen Weg vollendet habe, mit Freundlichkeit, Geduld, einem reinen Herzen, ohne Hass, so wie ich es mir versprochen habe, dann wird ein Teil davon auch dein Werk sein. Denn du hast mir gezeigt, dass selbst das sanfteste Licht die Dunkelheit durchbrechen kann. Danke, Oma. Für deine Stille. Für deine Güte. Für dein Sein.
Dein Enkel.